Gustav Peter Hahn war ein deutscher Heilerziehungspfleger und Heilpädagoge, der unter anderem von Paul Moor ausgebildet wurde und später Mitbegründer und Leiter einer Fachschule für Heilerziehungspflege in Neuendettelsau war.
In seinem Grundlagenwerk „Hilfen für das Zusammenleben mit geistig Behinderten“ von 1990 nimmt Gustav-Peter Hahn eine Einteilung von Behinderten in vier Gruppen vor. Diese kann dem Betreuer den Umgang mit seinen Schützlingen erleichtern, weshalb wir sie euch nachfolgend kurz vorstellen. Zunächst zur Einführung ein Zitat von Gustav-Peter Hahn:
„Jeder Mensch, auch jeder Mensch mit Behinderungen, ist auf persönliche Entfaltung, Reifung und Harmonisierung angelegt. Unsere pädagogische Aufgabe ist es, den Blick dafür zu öffnen, wo sich Keime dieses Wachsens zeigen und regen.“[1]
Ein geistig behinderter Mensch ist in der unmittelbaren Lebensbewältigung auf Hilfe bzw. Begleitung angewiesen. Je nach Grad der Behinderung fällt der Umfang dieser Hilfe unterschiedlich stark aus. Grundsätzlich sollte der Begleiter nur an den Punkten helfen, wo es unbedingt notwendig ist. Alles, was der Behinderte selbst kann, muss man ihn auch tun lassen. Das dauert zwar meist länger, als wenn der Begleiter dem Behinderten die Handgriffe „mal eben“ abnimmt – doch nur so bleibt der Behinderte daran gewöhnt, dass er trotz seiner Einschränkungen für sich selbst zuständig ist.
Nach Hahn lassen sich behinderte Menschen entsprechend ihrer Fähigkeiten in vier Gruppen[2] einordnen:
- der eindrucks- und ausdrucksfähige geistig Behinderte
- der gewöhnungsfähige geistig Behinderte
- der erfahrungsfähige geistig Behinderte
- der sozial-handlungsfähige geistig Behinderte
Hahn achtet hier nicht vorrangig darauf, was ein behinderter Mensch nicht kann, sondern darauf, wozu er in der Lage ist. Diese positive Herangehensweise ist wichtig für einen ermutigenden Umgang mit den Schützlingen.
Natürlich lässt sich nicht jeder Mensch mit Behinderung zweifelsfrei in eine dieser Gruppen einordnen. Es gibt immer unscharfe Übergänge. Im Wesentlichen sind die vier Gruppen aber folgendermaßen charakterisiert:
Fähigkeiten | Verhalten und Leistungen | |
---|---|---|
Der eindrucks- und ausdrucksfähige geistig Behinderte | • Eindrücke aufnehmen • auf primäre Bedürfnisse reagieren (Hunger, Durst, Schlafbedürfnis, Bedürfnis nach Geborgenheit) | • Gestik, Mimik, Weinen, Lachen • keine Sprachfähigkeit • einfaches Wortverständnis (Nennung des Namens, „Nein“, „Komm her“, ...) • Gegenstandsbewusstsein bzgl. primärer Bedürfnisse (z. B. dass ein Teller für Essen steht) • jenseits der primären Bedürfnisse bleiben vermutlich keine Eindrücke im Gedächtnis • kriechen, stehen oder gehen möglich (nicht zwingend bettlägerig) • kann lernen, mit den Augen einen Menschen/Gegenstand zu verfolgen • Antriebe oft stark verlangsamt oder auch sehr leicht reizbar |
Der gewöhnungsfähige geistig Behinderte | • Eindrücke aufnehmen • auf primäre Bedürfnisse reagieren • Aktivitäten mitmachen, die vom Erzieher angeregt werden • Lernen über Gewöhnung (sehr häufige Wiederholung der gleichen Abläufe) • Lernen von Dingen, die über die primären Bedürfnisse hinausgehen • nicht von sich aus in der Lage, sinnvoll aktiv zu sein oder auf andere Menschen zuzugehen | • Erlernen lebenspraktischer Dinge durch Gewöhnung: relativ selbständiges Essen & Trinken, Umziehen, Hilfestellung beim Waschen geben etc. • Übernehmen kleiner Aufgaben wie Tisch abräumen, etwas tragen etc. • Wortverständnis relativ groß, eigene Sprachfähigkeit jedoch auf Ein- bzw. Zweiwortschatz begrenzt • in Behindertenwerkstatt im Beschäftigungsbereich einsetzbar • Erzieher muss immer wieder zu einer Tätigkeit anregen; allein ist der Behinderte untätig |
Der erfahrungsfähige geistig Behinderte | • Eindrücke aufnehmen • auf primäre Bedürfnisse reagieren • selbstständige Kontaktaufnahme • sinnvolle Aktivitäten (in vertrauter Umgebung) • eigene Erfahrungen machen; Unterschiede feststellen; jedoch keine abstrakten Gedankengänge • Neugierverhalten | • sucht von sich aus den Kontakt zum Erzieher und zu anderen Menschen • beobachtet, imitiert Verhalten anderer, fragt (Neugierverhalten) • kann sich auf erwünschtes Verhalten einstellen: Hilfsbereitschaft, Spielfreude • erkennt und wertet: positiv und negativ belegte Verhaltensweisen • fähig zu elementaren Dingen der Selbstversorgung, bereit, gewisse Aufgaben zu übernehmen • stolz auf eigene Leistungen • Zeitorientierung möglich, jedoch nicht abstrakt, sondern nur direkt (z. B. Einhaltung von Essenszeiten; langfristige Erfahrungen wie Geburtstag, Weihnachten etc.) • umfassende Sprachfähigkeit und entsprechendes Wortverständnis, solange keine abstrakten Begriffe verwendet werden • in Behindertenwerkstatt für Arbeiten mit mehreren Schritten einsetzbar |
Der sozial-handlungsfähige geistig Behinderte | • Eindrücke aufnehmen • auf primäre Bedürfnisse reagieren • selbstständige Kontaktaufnahme • sinnvolle Aktivitäten (in vertrauter Umgebung) • eigene Erfahrungen machen • Neugierverhalten über die Grenze des Vertrauten hinaus • praktisches Intelligenzverhalten: in der Lage, eigene Ziele zu setzen und zu erreichen • eigenes, einfach strukturiertes Weltbild auf der Grundlage eigener Erfahrungen • Behinderung liegt im Grenzbereich zwischen geistig behindert und lernbehindert | • kann Alltag allein bewältigen, selbst zur Schule/Werkstatt fahren, sich in der Freizeit beschäftigen • regelmäßige Kontrolle und Geldzuteilung durch Betreuer nötig • ist in der Lage, nicht nur über Alltag, sondern auch über Zukunft oder eigene Wünsche zu sprechen • entwickelt ab Pubertät ein Selbstbewusstsein: möchte nicht zu Behinderten, sondern zu „Normalen“ gehören – kann mit der eigenen Selbsterkenntnis oft nicht sachlich umgehen • mit einem Partner auf Augenhöhe ist eine zufriedene, relativ selbstbestimmte Lebensführung möglich |
Je nachdem, welcher Gruppe sich ein behinderter Mensch zuordnen lässt, gibt Hahn verschiedene Ratschläge für die tägliche Betreuungsarbeit. Grundsätzlich gilt für alle Gruppen: Aktivierung, Stimulation und Lernprozesse sollen in den alltäglichen Rhythmus eingebettet werden. Der Behinderte soll gefordert, aber nicht überfordert werden, damit seine Entwicklung langfristig unterstützt wird.
Ratschläge für den Umgang mit eindrucks- und ausdrucksfähigen geistig Behinderten
Der Behinderte nimmt mehr Eindrücke auf, als er selbst ausdrücken kann. Deshalb ist es wichtig, häufig mit dem Behinderten zu sprechen, auch wenn nie eine Antwort kommt. Da der Behinderte zwischen angenehm und unangenehm, feucht und trocken, warm und kalt unterscheiden kann, sollte er oft berührt und über Körperkontakt angesprochen werden.
Die Herangehensweise an den Behinderten muss direkt und individuell sein, da nur unmittelbare Eindrücke wahrgenommen werden. Hierbei kann auch die Gesamtatmosphäre helfen – Hahn empfiehlt beispielsweise, den Aufenthaltsraum des Behinderten mit kräftigen warmen Farben zu gestalten. Durch diesen Kontrast kann der Behinderte den Betreuer besser wahrnehmen.
Es sollte konsequent das Prinzip der Aktivierung angewendet werden: Der Betreuer verlangt vom Behinderten, den letzten Schritt einer Tätigkeit selbst zu tun und sie so nach und nach zu erlernen. So wird der Behinderte zum Beispiel aufgefordert, einen vom Betreuer bereits heruntergezogenen Strumpf selbst auszuziehen oder einen Pullover das letzte Stück selbst über den Kopf zu ziehen. Beim Füttern reizt der Betreuer dem Behinderten mit dem Löffel nur die Lippen und bleibt kurz vor dem Mund stehen, damit der Behinderte lernt, die Speise selbst vom Löffel abzunehmen.
Übungen und Spiele werden idealerweise an den Stellen im Tagesablauf eingefügt, an denen sich der Behinderte in einem wachen, entspannten Zustand befindet. Regelmäßigkeit ist sehr wichtig – der Betreuer sollte also nur solche Übungen beginnen, die er auch wirklich täglich durchführen kann.
Ratschläge für den Umgang mit gewöhnungsfähigen geistig Behinderten
Der gewöhnungsfähige geistig Behinderte reagiert auf die Kontaktaufnahme des Betreuers, kann jedoch von sich aus nicht auf andere Menschen zugehen. Deshalb ist es wichtig, dass der Betreuer seinen Schützling regelmäßig aus der Isolation herauslockt und ihn dazu deutlich bei seinem Namen nennt.
Der Betreuer bezieht den Behinderten am besten wie selbstverständlich in alle Abläufe des Alltags ein. Hierzu gibt er ihm kleine Hilfsaufgaben: beim Beziehen des Bettes das Kissen zu halten, beim Kochen das Waschen von Salat oder das Tischdecken.
Hahn empfiehlt, im Tagesgeschehen einige anspruchsvollere Übungen einzubauen, um so die Entwicklung des Behinderten zu unterstützen. Hierbei ist es besonders hilfreich, andere Behinderte mit einzubeziehen.
Ratschläge für den Umgang mit erfahrungsfähigen geistig Behinderten
Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Gruppen sind erfahrungsfähige geistig Behinderte in der Lage, sich von der unmittelbaren, individuellen Beziehung zum Betreuer zu lösen. So fühlen sie sich auch angesprochen, wenn der Betreuer sagt: „Wir werden gleich losgehen.“
Die wichtigste Aufgabe des Betreuers im Umgang mit einem erfahrungsfähigen geistig Behinderten ist es, ihm die Möglichkeiten zu schaffen, eigene Erfahrungen zu machen. So ist beispielsweise auch komplexes Spielzeug für den Behinderten geeignet, mit dem dieser sich selbstständig beschäftigen kann. Am besten ist es, wenn der Behinderte neu zu erlernende Vorgänge an sich selbst begreifen kann – zum Beispiel eine Schleife zu binden oder Knöpfe zu öffnen und schließen.
Trotz der engen Bindung, die zwischen Betreuer und Schützling im Laufe der Zeit entsteht, kommt irgendwann der Punkt, an dem der Betreuer den Behinderten einer gewissen Selbstständigkeit überlassen muss. Hahn schreibt hierzu: „Es kommt der Tag, an dem der Erzieher diesen Behinderten alleine über die Straße zum Einkaufen gehen lassen muss. Das sind bange und bei Gelingen doch wunderbare Augenblicke, bei denen der Erzieher erkennt, wie traurig und wie schön es ist, einen Menschen in diese Welt der Gefährdung hineinwachsen zu lassen. Aber nur so wächst der Mensch in die Würde hinein, zu der er bestimmt ist.“[3]
Ratschläge für den Umgang mit sozial-handlungsfähigen geistig Behinderten
Da der Behinderte in der Lage ist, sich mit seinem Erzieher bzw. Betreuer und dessen Erziehung zu beschäftigen, muss der Betreuer diesbezüglich auf Fragen und Widerworte gefasst sein. Im Zuge der Pubertät entwickelt der Behinderte einen eigenen Willen, der sich zunächst in der Verneinung der Wünsche des Erziehers ausdrückt. Der Behinderte möchte als eigenständige Person anerkannt werden und versucht deshalb, sich abzugrenzen. An dieser Stelle ist es wichtig, dem Behinderten dabei zu helfen, eigene Ziele zu formulieren und diese zu verfolgen, damit seine Wünsche eben nicht nur der Verneinung des Erziehers dienen.
Damit der Behinderte sich ernst genommen fühlt, sollte er gewisse Verantwortungen übertragen bekommen. Diese müssen dann auch durch den Betreuer eingefordert werden.
Der Umgang mit einem sozial-handlungsfähigen geistig Behinderten ist vor allem dadurch schwierig, dass der Betreuer erkennen muss, in welchem Rahmen er den Schützling an neue Erfahrungen heranführen kann. Hahn betont hierbei, dass es weniger wichtig ist, was der Betreuer sagt, als vielmehr die Art und Weise, wie er sich verhält. Der Betreuer sollte den Behinderten in sein Denken und Handeln einbeziehen und ihm permanent erklären, wie seine eigene Lebensführung funktioniert. Der Behinderte muss erkennen, dass auch der Betreuer keine unbegrenzten Möglichkeiten im Leben hat, „nur weil er nicht behindert ist“. Stattdessen muss der Betreuer, genau wie der Behinderte, manche Begrenzungen hinnehmen und sich damit abfinden.
Falls es zwischen Behindertem und Betreuer zu einem Machtkampf kommt, sollte der Betreuer sich bewusst werden, dass in einer derart angespannten Situation keinerlei Erziehung mehr möglich ist. Es gilt also zunächst, den Kampf zu beenden und eine offene, vertrauensvolle Atmosphäre wiederherzustellen. Erziehung kann nur in einem Rahmen stattfinden, der von gegenseitiger Wertschätzung geprägt ist. Es nützt also nichts, auf Biegen und Brechen seinen Willen durchzusetzen und davon auszugehen, dass der Behinderte daraus eine Regel lernt. Dies wird nicht funktionieren.
Wenn der Moment kommt, dass der Behinderte sich „allein“ in der Welt bewegt und beispielsweise eine Arbeit sucht, einkaufen geht oder einen Partner findet, sollte der Betreuer nach Hahn vor allem eines tun: Ruhe bewahren. Der Betreuer kann den Behinderten nicht vor negativen Erfahrungen schützen, auch wenn er es gerne wollte.
Es nützt nichts, dem Schützling einen Diskobesuch zu verbieten, „weil es dir da zu laut sein könnte“. Diese Erfahrung muss der Behinderte erst selbst machen, um sie sich vorstellen zu können. Hier spielt die vorangegangene Erziehung eine große Rolle. Hat der Behinderte gelernt, wie er sich in einer unbekannten, für ihn vielleicht unangenehmen Situation verhalten soll (z. B. den Raum verlassen, nach Hause gehen), dann ist er bereit, sich ebensolchen Situationen auszusetzen.
Zahlreiche weitere interessante Tipps und Informationen in: „Hilfen für das Zusammenleben mit geistig Behinderten. Erfahrungen aus jahrzehntelanger Tätigkeit“ von Gustav-Peter Hahn, Wissenschaftsverlag Volker Spiess, Berlin 1990.